Manchmal ist das Unwahrscheinliche wahrscheinlicher als das Wahrscheinliche

Histamin-Intoleranz und Erschöpfung

von Ute Vollmöller

Bei mir wurde 2001, damals war ich gerade 35 Jahre alt, ein Cystosarcoma phylloides, ein Bindegewebstumor in der Brust festgestellt, extrem schnell wachsend und in 25 Prozent der Fälle auch bösartig, was leider bei mir der Fall war. Es ging alles sehr schnell.

Im Juni bemerkte ich eine deutliche Veränderung meiner linken Brust. Im Juli ging ich zum Gynäkologen, der mich sofort zur Mammografie schickte. Da war der Tumor schon 9 x 5 cm groß. Nur eineinhalb Wochen später wurde ich operiert. Dass der Chirurg dies noch am letzten Tag vor seinem Urlaub unternehmen wollte, machte mir zum ersten Mal den Ernst der Lage so richtig bewusst. Der Chirurg, dem glücklicherweise klar war, wie extrem schnell wachsend diese Art Tumor ist, ging allerdings davon aus, dass ich Glück haben würde und die Geschwulst nicht bösartig sei. Es dauerte einige Wochen und mehrere Untersuchungen an dem großen Tumor, bis der Pathologe auf den bösartigen Bereich stieß. Nun war guter Rat teuer, oder besser gesagt, äußerst schwer zu bekommen. Der Chirurg, der meine Brust kosmetisch schön – das muss man ihm lassen – operiert hatte, ließ mich nun mit der Frage allein, was weiter zu tun sei.

Hier gilt dem Heidelberger Krebsinformationsdienst ein großes Dankeschön. Sie machten eine Internetrecherche für mich und erteilten mir Auskünfte bezüglich der wenigen medizinischen Fachartikel, die es zu dieser extrem seltenen Tumor-Art gibt. Anhand dieser Informationen wurde klar, dass nur zwei Alternativen existierten: die Brust abnehmen oder eine Bestrahlungstherapie. Ich entschied mich für Letzteres.

Im Verlauf der Bestrahlungen, die ich ansonsten gut vertragen habe, entwickelte sich sehr schnell eine starke Erschöpfung. Seitdem leide ich unter einem Chronischen Erschöpfungs- Syndrom (CFS – Chronic fatigue syndrom). Die Erschöpfung, eine normale Nebenwirkung der Bestrahlung, hörte bei mir einfach nicht wieder auf. Mehr als im Durchschnitt drei bis vier Stunden (an manchen Tagen sechs Stunden, viele Tage aber nur zwei bis drei) konnte ich am Tag einfach nicht aktiv sein. Den Rest der Zeit verbrachte ich mit Liegen, Halbliegen auf dem Sofa oder mit Schlafen. Anfangs habe ich fast zwanzig Stunden am Tag geschlafen. Lange Jahre brauchte ich dann etwa zwölf Stunden am Tag.

Erst Ende 2007 habe ich in der Selbsthilfegruppe für CFS (Fatigatio e.V.) den Hinweis auf eine mögliche Histamin-Intoleranz bekommen. Was diese angeht, liegt es mir sehr am Herzen, bekannt zu machen, dass sie Ursache einer schwerwiegenden und anhaltenden Erschöpfung nach Bestrahlungen sein kann. Es gibt bislang meines Wissens keine Hinweise in der üblichen „Krebsliteratur“ darauf. Das Buch von Privatdozent Dr. med. Franz Franzen „Untersuchungen zur Frage der Entstehung und pathophysiologischen Bedeutung biogener Amine bei subletalen Strahlenschäden“,[1] ist mir bei meinen Recherchen zu Histamin, welches eines der biogenen Amine ist, in die Hände gefallen, als ich im Berliner Bibliotheken-Verbund nach Literatur suchte. Das war mein großes Aha-Erlebnis.

Im Juni 2008 hatte ich dann die ärztliche Bestätigung, dass ich unter einer Histamin-Intoleranz leide. Bei dieser besteht ein Mangel am Enzym Diaminooxidase, das Histamin, einen Immunbotenstoff, abbaut. Wahrscheinlich bis zu 5 Prozent der Bevölkerung, überwiegend Frauen, sind davon betroffen. Bei einer Krebsbestrahlung wird im Körper sehr viel Histamin freigesetzt (Franzen 1966), das ich wegen des Enzymmangels aber nicht abbauen konnte. Seit Mitte 2008 halte ich nun eine histaminarme Diät ein, und die Erschöpfung wird nach und nach besser. Mein Schlafbedarf hat sich schon fast wieder normalisiert. Das geht allerdings alles nur sehr, sehr langsam. Aber es verändert sich endlich etwas zum Besseren.

Wer also auffällig früh – meine Ärzte wunderten sich – und mit anhaltender Erschöpfung auf die Bestrahlung reagiert, sollte sich frühzeitig auf eine Histamin-Intoleranz untersuchen lassen. (Maßstab ist ein niedriger Diaminooxidase-Wert im Blut.) Leider ist diese Erkrankung hierzulande noch relativ unbekannt, auch den meisten Ärzten. Ein solches Wissen hätte mir Jahre der Erschöpfung ersparen können.

Typisch für diese bei CFS und einer chronische Histaminvergiftung ist unter anderem eine verzögerte und extreme Reaktion auf Überlastung. Sie kommt erst Stunden bis Tage später – bei mir meistens am zweiten Tag danach – und es braucht zum Teil sehr lange, Tage bis Wochen, bis ich mich von so einer Überlastung wieder erholt habe.

Glücklicherweise ist aber der Krebs besiegt. Wäre es zu Metastasen oder einem Rezidiv gekommen, hätte ich nur noch ein halbes bis dreiviertel Jahr zu leben gehabt.

Das Gedicht „…ohne mich?“ habe ich erst drei Jahre nach der Bestrahlungstherapie geschrieben, als ich die Musik-CD, die ich zur OP ins Krankenhaus mitgenommen hatte, zum ersten Mal wieder hörte. Die Gefühle waren auf einmal erneut voll da, und ich konnte sie nun, nicht mehr unter dem Schock von damals, in Worte fassen.

…ohne mich ?

bleibt die Zeit stehn?

meine Zeit

jetzt

oder morgen ?

mitten im Lauf,

als hielte sie die Luft an,

um dann weiter zu laufen –

ohne mich?

 

Wunder

 Allen Unwahrscheinlichkeiten zum Trotz

ist manchmal

das Unwahrscheinliche

wahrscheinlicher

als das Wahrscheinliche.

 

Ute Vollmöller

Aus dem Buch Krebs: Alles ist möglich – auch das Unmögliche, Erfahrungsberichte von Krebsbetroffenen, Christel Schoen (Hg.)

Quellen:

[1] Franzen Franz: Forschungsberichte des Landes Nordrhein-Westfalen, Deutscher Verlag, Köln, Opladen 1966,

http://www.robinson-riedl.de/milonga-fuehrer.htm

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