Tumor-Tango
von Gerhard Riedl
Seit dem ersten Schülerkurs damals am Gymnasium ist das Tanzen zwar nicht meine einzige Passion, aber sie begleitet mich – mal mehr, mal weniger intensiv und mit unterschiedlichen Partnerinnen – seit nunmehr über 45 Jahren. Zunächst lange Zeit Standard- und lateinamerikanische Tänze in diversen Tanzschulen, dann Ehepaartanzkreise, Medaillen in allen Edelmetallen, schließlich auch die sportivere Variante in Form von Turnieren. Freilich nicht mehr im Leistungssport, sondern auf Hobbyniveau. Schließlich war ich damals Ende Vierzig. Vor fünfzehn Jahren dann der Umschwung zum argentinischen Tango. Das war eine völlig neue Welt – meditativer, kreativer und sinnlicher als jegliches „Figuren-Abspulen“ in der Zeit davor.
Schon immer gehörte es zu den glücklicheren Momenten meines Lebens, wenn ich mich auf dem Parkett bewegte, die völlig wortlose, intuitive Verständigung und Harmonie mit einem anderen Menschen suchte und oft genug fand. Natürlich war Tanzen manchmal auch Stress, wenn das Gefühl aufkam, es anderen recht machen zu müssen: der Tanzpartnerin, dem Publikum bei Showauftritten oder den Wertungsrichtern bei Turnieren. So gesehen erzieht diese Aktion auf den „Brettern, die die Welt bedeuten“ auch zur Disziplin. Von jetzt auf gleich, unabhängig von aktueller Stimmungslage und Kondition, muss man Höchstleistungen abrufen. „Ein Tänzer wird nicht krank“, so mein häufiger Kommentar zu irgendwelchen befindlichkeitsbedingten Absagen von Tanzsportkollegen.
So ignorierte ich auch lange Zeit den stark vergrößerten Lymphknoten in meiner Leiste – getreu dem Motto „Was von selbst kommt, geht auch von selbst“. Die mir von meinen Eltern anerzogene Hypochondrie hatte ich nur mit dem Gegenteil kompensieren können, nämlich dem konsequenten Meiden von allem, was nur von weitem nach Krankheit roch: Ärzte, Krankenhäuser und Altersgenossen, die Richtung Sechzig offenbar kaum ein anderes Lieblingsthema kannten. Vielleicht war es aber doch die unbewusste Gewissheit, dass ich bei Offenbarung dieses Symptoms für lange Zeit in dieser aseptisch riechenden Welt würde untertauchen müssen? Ich sollte Recht behalten.
Mein Hausarzt jedenfalls reagierte ungewöhnlich hektisch, als ich ihn auf diese „komische Verdickung“ endlich einmal aufmerksam machte. „Das ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht gutartig“, so sein Kommentar, mit dem er mich umgehend in der onkologischen Ambulanz einer Klinik anmeldete. Dort mutierte ich zu einer wandelnden Krankenakte und durchlief alle (Vorsorge) Untersuchungen, welche ich die letzten Jahrzehnte geschwänzt hatte.
Nachdem man mir alsbald die verdächtige Geschwulst entfernt hatte, stand die Diagnose fest: ein in der Laiensprache „Lymphdrüsenkrebs“ genanntes NHL (Non Hodgkin Lymphom), das sich schon auf etliche weitere Lymphknoten (glücklicherweise nur im Bauchraum) ausgedehnt hatte. Daher als Therapie das (bis auf Bestrahlungen) volle Programm. Sechs Zyklen Chemotherapie, zwölf Sitzungen Antikörperbehandlung, insgesamt ein ganzes Jahr lang „Schulmedizin Hardco-re“. Mit zwei Lichtblicken. Die Ärzte versicherten mir, dass es gerade bei dieser Tumorart Erfolg versprechende neue Therapien gäbe. Außerdem sei ich – bis auf die entarteten B-Lymphozyten – für mein Alter in einem überraschend guten Erhaltungszustand.
Wieso bei mir die „K-Diagnose“ nicht den seelischen Absturz erzeugte, den ich inzwischen von vielen Leidensgenossen kenne, lag wohl an verschiedenen Faktoren. Erstens hatte ich nie besonders gesund gelebt und mir daher nicht eingebildet, einen „Rechtsanspruch“ auf ein überdurchschnittliches Lebensalter erworben zu haben. Zweitens stützte mich ein tolles privates Umfeld mit Ehefrau und wenigen, aber echten Freunden. Und drittens machte der Beruf, da inzwischen in Teilzeit beschäftigt, sogar wieder Freude – verbunden mit der Aussicht auf eine nicht mehr ferne Pensionierung. Die Krankheit hatte mich in der glücklichsten Phase meines Lebens getroffen. Ich sah dies nicht als besonders grausame Variante des Schicksals, sondern im Gegenteil als beste Voraussetzung dafür, meine persönliche Überlebenszeit noch etwas auszudehnen.
Ich sage bewusst nicht „den Krebs bekämpfen“ oder „mit ihm fertig werden“. Man muss jede Diagnose zunächst einmal als Botschaft des Körpers verstehen. Hier als die Rückmeldung über einen besonders fiesen Angriff auf das Immunsystem, das eigentlich mutierte Zellen abfangen soll. Dies taten nun vertretungsweise diverse Zytostatika und Antikörper, was aber auf Dauer nicht so bleiben durfte. Irgendwann musste mir das wieder mit „Bordmitteln“ möglich sein. Daher war ich sofort überzeugt, dass es die Schulmedizin allein nicht richten konnte – ich brauchte eine ganzheitliche, naturheilkundliche Begleitung.
Glücklicherweise hatte eine Freundin gerade ihre Ausbildung zur Heilpraktikerin mit dem Schwerpunkt „Traditionelle Chinesische Medizin“ (TCM) abgeschlossen und mich schon vorher, trotz meiner naturwissenschaftlichen Skepsis, per Akupunktur von Kopfschmerzen und Nebenhöhlenbeschwerden befreit. Zusammen mit einem ihrer Ausbilder, einem Arzt für Naturheilverfahren, sorgte sie nun konsequent für die Steigerung meiner körperlichen und seelischen Kräfte.
Welche Therapie hilft oder auch nicht, muss man selbst herausfinden. Erstaunlich, was der Körper erzählt, wenn man ihm aufmerksam zuhört! Ich entwickelte in kurzer Zeit ein intuitives Gespür dafür, was mein Immunsystem stärkte oder hinunterfuhr. Ich musste nicht mehr „funktionieren“ und alles „bewältigen“, sondern durfte mich bei Schwächen ohne schlechtes Gewissen auf die Couch zurückziehen sowie, mit dem Schwerbehindertenausweis wedelnd, auch beruflichen Zumutungen ausweichen – ganz neue persönliche Freiheiten. So kam ich über die teilweise belastenden Untersuchungen und Behandlungen erstaunlich gut hinweg. Apropos Chemotherapie. Wie formuliert die Brustkrebspatientin Kora Decker[1] in ihrem fantastischen Buch „Jetzt ist heute“ so schnoddrig-schön? Man muss nicht den ganzen Beipackzettel abarbeiten! Und in meinem Alter hatte ich als Mann, so fand ich jedenfalls, durchaus das Recht auf eine Glatze – noch dazu auf eine, die nicht blieb.
Eine weitere Behandlung, die ich mir verordnete: nicht zu oft krankschreiben lassen. Ein Schlüsselerlebnis hierzu hatte ich schon sehr bald, als ich mich einer Knochenmarksbiopsie unterziehen durfte (für Außenstehende: nicht vergnügungssteuerpflichtig!). Als ich anderthalb Stunden später wieder an meinem Arbeitsplatz stand, machte ich die erstaunliche Erfahrung, dass man nicht gleichzeitig Schmerzen im Beckenkamm haben und sich auf den Beruf konzentrieren kann. Und auch die abendliche Vorstellung als Zauberkünstler (eine weitere Passion) sagte ich nicht ab. Beim Umziehen vor dem Auftritt streifte meine Hand den Druckverband: Ich hatte ihn komplett vergessen.
Die einzige große Sorge, die mich zu Beginn meiner „K-Phase“ erfasste: Wie würde das mit dem Tango weitergehen? Müsste ich auf das Tanzen für längere Zeit oder gar ganz verzichten? Das hätte mich stärker abstürzen lassen als alle Aussichten auf diffuse Überlebensraten. Aber plötzlich, am Tag vor der Operation, wusste ich es. Ich würde, wenn ich schon nicht mehr tanzen könnte, ein Buch schreiben – natürlich über den argentinischen Tango. Ein nahe liegender Gedanke, da ich mich schon öfters als Autor betätigt hatte – allerdings bisher nur mit Glossen für diverse Zeitschriften und Texten zu meinen Zauberprogrammen. Und so kam es, dass ich in die Klinik eine Briefmappe mit Konzeptpapier mitnahm, und bald nach dem Aufwachen aus der Narkose die ersten Zeilen der Einleitung schrieb.
Offenbar wird Entschlossenheit vom Schicksal belohnt. Fünf Tage nach der Operation stand ich erstmals wieder auf dem Parkett und ließ mich beim Tanz mit meiner Heilpraktikerin und Tangofreundin zu einer Hebefigur hinreißen. Nie werde ich ihre Schreckreaktion ob meiner frisch genähten Leiste vergessen. „Wenn du das noch einmal machst, lasse ich dich auf der Tanzfläche stehen“ – die tangomäßige Höchststrafe. Das Buch[2] schrieb ich trotzdem (man kann ja nie wissen), und es erschien anderthalb Jahre nach meinem persönlichen „K-Day“, dem Tag der Erst-diagnose. Es hat mich über alle mehr oder weniger belastenden Phasen meiner „Krankheitszeit“ getragen, beispielsweise über die Chemotherapie-Sitzungen, bei denen ich mir die Kanüle lieber links legen ließ, um die Schreibhand frei zu haben. Dabei wurde ich stets begleitet von meiner Frau, die oft Korrektur lesend auf dem Stuhl neben mir saß. Es war toll, einmal zu erleben, was alles nötig ist, bis ein Buch endlich gedruckt und dann auch noch verkauft ist!
Dieser Tanz aus den Elendsquartieren am Rio de la Plata hat mich viel gelehrt, da er wie das Leben ist. Nie nur fröhlich oder ausschließlich traurig. Die Dinge, welche uns wirklich bewegen, definieren sich stets durch ihr Gegenteil – was wäre das Gute ohne das Böse, das Lachen ohne das Weinen, die Hoffnung ohne die Verzweiflung? Man kann einen Tango auch tanzen, wenn man müde oder niedergeschlagen ist – versuchen Sie das mal mit einem Wiener Walzer! So hing ich manchmal bis gegen Abend in der Klinik an der Nadel und stand drei Stunden später trotzdem auf dem Parkett – vielleicht bin ich so dem Krebs davon getanzt…
Was mich heute noch schmunzeln lässt: Welches Gesicht hätten meine Ärzte gemacht, die mich wegen meiner Immunschwäche vor Menschenansammlungen warnten, wenn sie mich des Nachts auf Tuchfühlung mit diversen Tänzerinnen erblickt hätten? Aber man sollte Medizinern nicht alles sagen – manche reagieren beim „K-Thema“ erstaunlich depressiv.
Inzwischen bin ich über vier Jahre symptomfrei. Ohne die Kontrollbesuche bei den netten Schwestern und Ärzten in „meiner“ Onkologie, würde mir direkt etwas fehlen. Ob ein „Leidensgenosse“ von meiner Geschichte etwas für sich mitnehmen kann, muss er selbst entscheiden. Es gibt so viele Krebsschicksale wie Lösungswege. Nur: Begreifen Sie, dass dieser Weg am Tag der Diagnose beginnen muss, organisieren Sie sich alle Hilfe, die Sie brauchen – und lassen Sie die Konjunktive! Ich dachte damals nicht: „Ich würde gerne ein Buch schreiben“, sondern mir war klar: „Ich werde es gedruckt bekommen!“. Aber vielleicht möchten Sie sich ja lieber den lange gehegten Traum von einer Reise erfüllen oder die bayerische Meisterschaft im Preiskegeln gewinnen? Völlig egal! Sie sind der beste Experte für Ihr eigenes Glück. Haben Sie keine Angst vor dem Tod – im Gegenteil. Beginnen Sie mit dem wirklichen Leben!
Gerhard Riedl, 1950, Gymnasiallehrer a.D., Pörnbach
Aus dem Buch Krebs: Wege aus der lauten Stille des Schweigens, Erfahrungsberichte von Krebsbetroffenen und ihnen nahestehenden Menschen, Christel Schoen (Hg.)
Quellen:
[1] Decker, Kora: Jetzt ist Heute, dtv
(2)Riedl, Gerhard: Der große Milonga-Führer, Wagner Verlag www.der-grosse-milongafuehrer.de
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